Sokrates und das Daimonion / Sokratischer Dämon

Überblick auf das Leben und Wirken Sokrates | Das Daimonion (intuitive Weisheit der Natur) und sein Verhältnis zu unserer Gesellschaftsform


Sokrates war ein griechischer Philosoph; er lebte und wirkte in Athen. Die von ihm entwickelte Methode des Hinterfragens liebgewordener Gewohnheiten und anerzogener Glücksvorstellungen gilt als ein Wendepunkt in der Philosophiegeschichte des Abendlandes. Wenig bekannt ist seine Wertschätzung Heraklits; er hielt dessen Schrift für ausgezeichnet. Und für das, was er nicht verstand, beriet er sich mit der Weisheit seines Daimon.

Sokrates selbst hat keine Schriften hinterlassen; Informationen über ihn liefern vor allem die Dialoge Platons, auch ein Büchlein Xenophons, die in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod entstanden. Hinzu kommen Notizen, Anmerkungen und Anekdoten zahlreicher Autoren der griechisch-lateinischen Literatur. Im vorliegenden Text wird ein Versuch unternommen, Leben und Wirken dieses Menschen aus psychoanalytischer Sicht zu beleuchten, indem wir annehmen, dass die unfehlbare Weisheit, die Sokrates seinem "Daimonion" zuschrieb, mit dem Wesen des  freudschen "Es" identisch sei. Eine kurze Einführung in Freuds  Traumdeutung, die sich der erwähnten Technik des sokratischen Hinterfragens in Form der Methode des "Freien Asssoziierens" bedient, ließe sich  hier  nachlesen. Eigene Freie Assoziationen über die Symbole der Träume stellen nicht nur den Königsweg in das Unbewusste dar, sondern ein Mittel zur Bewältigung akuter seelischer Krisen, im Sinne der Befreiung des im Unbewussten - wie in einem Kerker - gefangenen Daimonions.


Lebenslauf
Sokrates wurde 469 v.u.Z. in Athen geboren und 399 zum Tode verurteilt. Seine Eltern waren Sophroniskos, der ein Bildhauer gewesen sein soll, und die Hebamme Phainarete. Zum Zeitpunkt seines Todes war er mit Xanthippe verheiratet und hatte mit ihr drei Söhne. Freunde von Jugend an waren Kriton und Chairephon.

Sokrates hatte von seinen Eltern ein kleines Vermögen geerbt, das ihm bei sehr bescheidenem Haushalten (mit oft vernachlässigter Kleidung) ermöglichte, sich dem Philosophieren zu widmen ohne einer geregelten Arbeit nachzugehen (bis auf die Feldzüge, an denen er teilnehmen mußte).
 

Nach Platon wird Sokrates durch die weise Diotima, die ihn im Knabenalter mit dem Konzept des Eros vertraut macht, in die Philosophie eingeführt. Gewiss ist auch, dass er sich ausführlich mit den Schriften Anaximanders, Parmenides und Heraklit befasst hatte.
Er nahm als Soldat an den Krigen von Potidaia, Delion und Amphipolis teil. Seine Tapferkeit und seine Besonnenheit (sophrosyne) werden von Platon und Xenophon gerühmt. 423 wird er als Hauptfigur der Komödie Die Wolken von Aristophanes in einer satirischen Überzeichnung als 'spleeniger Denker' zur Zielscheibe des allgemeinen Spottes. Schon hier begann ihm das Volk den Vorwurf zu machen, die Jugend zu verblenden und zum frevenhalften Tun gegen die herrschenden olypischen Götter verführt zu haben. 416 erscheint Sokrates als “Ehrengast” auf einem berühmten Gastmahl (s. Platons "Symposion"), das anlässlich des Tragödiensieges des jungen Agathon stattfindet. 406 nahm er als Ratsherr am Prozess gegen die Feldherren aus der Schlacht bei den Arginusen teil und wandte sich gegen deren dann mehrheitlich beschlossene Verurteilung. Aus der Zeit der Gewaltherrschaft der "dreißig Tyrannen" etwa um 403, sind ähnlich brisante Ereignisse überliefert. Ein festes Datum ist das Jahr 399, als Sokrates zum Tode verurteilt wurde. Aus seiner 'Schule' (- er bestritt, das Philosophie lehrbar sei) gingen viele Personen hervor, die sich in der weiteren Geschichte des Abendlandes einen Namen machten. Hierzu zählen Platon, Euklid, Antisthenes, Aristipp, Xenophon, Alkibiades und Kritias.

 

Tod 
Der Verurteilung zum Tode ging ein Prozess voraus, in dem Sokrates wegen Gottlosigkeit und verderblichen Einflusses auf die Jugend angeklagt wurde. Gottlosigkeit (Asebie) bedeutete, nicht an die Staatsgötter Athens zu glauben, ein Verbrechen, das mit dem Tod durch Vergiften geahndet wurde. In seiner überlieferten Verteidigungsrede widerlegte er beide Vorwürfe, dennoch wurde er mit knapper Mehrheit (281 gegen 219 Stimmen) von einem der zahlreichen demokratischen Gerichtshöfe Athens für schuldig befunden.

Nach damaligem Brauch durfte der Angeklagte nach der Schuldigsprechung eine mildere Strafe vorschlagen. In diesem (zweiten) Teil seiner Verteidigungsrede erklärte Sokrates eben das Verhalten, das zu seiner Schuldigsprechung geführt hatte, für höchst nützlich, er könne daher keine Bestrafung vorschlagen, wo eine Belohnung angemessen sei: man solle ihm auf restliche Lebenzeit freie Verköstigung gewähren, damit er in Ruhe weiter philosophieren könne. Die Richter verurteilten ihn nun mit einer Mehrheit von 361 Stimmen zum Tod durch Trinken des Schierlingsbechers.

Sokrates hätte sein Leben retten können, wenn er bereit gewesen wäre, die Anklage als berechtigt anzuerkennen sich der Hinrichtung durch Flucht aus Athen zu entziehen, wie sein Freund Kriton ihm dies eindringlich nahelegte. Letzteres tat er nicht, da er Flucht aus dem Gefängnis als Verstoß wider die Gesetze Athens erachtete und vor allem: der Jugend kein Vorbild zu unüberlegter (lebensgefährlicher) Aufsässigkeit gegen den athenischen Staat abgeben wollte. Außerdem hielt er es für lächerlich, sich so kurz vor dem natürlichen Tode noch ans Leben zu klammern; so schwieg sein Daimonion gegenüber der Entscheidung, den Trunk des Schierlings im Gefängnis zu erdulden. (Nach Platos Apologie warnte die innere Stimme des Daimonion, der Intuitiven Weisheit der Natur, nur vor jenen Entscheidungen des Ich-Bewusstseins, die sich dann nach einer eingehenderen Betrachtung tatsächlich als Irrtümer erwiesen.) Das demokratisch legale Todesurteil anderseits als berechtigt anzunehmen, kam für Sokrates ebenso wenig in Frage. Er hielt die Wahrheit für wichtiger als sein Leben und seinen Standpunkt für einwandtfrei legal (im Sinne der Naturgesetze). Er war überzeugt, zum Besten Athens und der Menschheit gehandelt zu haben. Die Verhandlung und der Tod Sokrates' sind in Platons Schriften Apologie, Kriton und Phaidon, und in Xenophons Apologie des Sokrates beschrieben.



Philosophie 

Sokratische Philosophie bedeutet eine Haltung, in der Intuition (Es) und rationales Denken (Ich) übereinstimmen und gemeinsam lenkend für das Leben in gelungener Selbstverwirklichung sein sollen, was sich in der Übersetzung des Wortes Philosophie als “Liebe zur Weisheit” ausdrückt. Die Liebe übrigens, so bemerkte Sokrates einmal, sei das einzige, wovon er etwas verstehe. (vgl. Theages 128a)

Sokrates nennt in seiner Apologie - dem Vorwurf der Gottlosigkeit damit begegnend - den Gott von Delphi als Garanten für die Wahrhaftigkeit seines Philosophierens. Dieser Gott hatte den Hellenen geweissagt, dass “niemand weiser ist als Sokrates”. Seine bescheidene Selbsterkenntnis hielt Sokrates davon ab, dieser Aussage mehr zuzutrauen, als er selbst einzusehen im Stande war. “Was meint der Gott damit? Worauf will er mich hinweisen? Schließlich weiß ich doch, dass ich weder viel noch wenig weiß! Und lügen wird er ja nicht, das ist ihm nicht erlaubt.” (Apologie 21b)

Vom Gott berufen, das Weise zu lieben (mehr als sich selbst) und aufzudecken, daß es seinen Sitz nicht in der rationalen Vernunft ("Ich") habe - in diesem Sinne verstand er schließlich die ihm von dem Orakel zugeschriebene Weisheit. Davor hatte er sich aufgemacht, andere, die als weise galten

oder sich dafür hielten, zu befragen, um von ihnen zu lernen, zugleich prüfend, was es wohl mit dem Orakel auf sich habe - und ob es wohl möglich einem Irrtum erlegen sei. So kam es zu den Gesprächen mit den Sophisten, den angeblichen Weisen seiner Zeit, den in öffentlichen Ämtern stehenden Athenern, Bekannten und Freunden...

Wie die Sophisten beschäftigte sich Sokrates mit den Menschen und dem Menschenleben, auch mit den Hypothesen und Theorien der Naturphilosophen, jedoch auf eine andere Weise (Sokratische Wende in der Philosophiegeschichte). Der wichtigste Unterschied zu den Sophisten bestand darin, dass Sokrates für erforderlich hielt, keinerlei Ansicht, die als Erkenntnis galt, als lang bewährte Tradition, Sitte, Glaube, ohne eingehende Prüfung als solche gelten lassen zu dürfen, sondern alles immer wieder von neuem zu hinterfragen.  Diese Haltung ist allerdings nicht spezifisch sokratisch, sondern der gesamten hellenischen Naturphilosophie zu eigen. So sagt Heraklit im sechsten seiner Aphorismen: "Die Vernunft (Helios' Geist) ist neu an jedem Morgen".

Auch sah er sich nicht selber, wie die Sophisten, als Gelehrten oder Weisen an. Aus diesem Grunde - weil er immer wieder nur die Unwissenheit des "Ichs" erkannte - ließ er sich im Gegensatz zu den Sophisten auch nicht für seine philosophische Betätigung bezahlen. Sokrates nannte sich bewusst Philosoph – Freund der Weisheit, nicht Verkäufer...

Für ihn war es wichtig, den menschliche Erkenntnissen und Sein ein sicheres Fundament zu finden. Er erntdeckte, daß dieses Fundament nicht im Ich selbst zu entdecken ist; er hielt diese Instanz - und mit ihr die Vernunft - für anfällig, Fehler begehen zu können, die ihr selbst unerkennbar bleiben. In der Tat können ihre Vorstellungen in sich vollkommmen schlüssig sein, dennoch im ganzen falsch, nämlich sofern sie auf einer irrtümlich für wahr erachteten Prämisse ankern.

Erst in dem Weisen selbst, das innerlich als "Gefühl" offenbar werde, indem es das Ich auf einen seiner Irrtümer hinweis  (Stimme des Daimonions), und dass der Vernunft nicht hinterfragbar ist, erkannte er das eigentliche, unerschütterliche Fundament richtiger Urteile.

Er war der Ansicht, dass der, der aus den Botschaften des daimonischen Seelengrundes wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Er glaubte, die richtige Erkenntnis führe zum richtigen Handeln. Und nur wer das Richtige tue, so Sokrates, werde zum 'richtigen Menschen'. Wenn ein Mensch falsch handelt, so tut er das nur, weil er es nicht besser weiß. Deshalb sei es so wichtig, jegliche der unter Menschen gehegten Ansichten, überlieferte Glauben ebenso wie das allgemein für gültig erklärte Wissen und  als 'unantastbare 'Ratschlüsse Gottes' erachten Orakel (wie das delphische in Bezug auf ihn) sorgfältig zu hinterfragen, wofür er eine spezielle Methode des Fragens: die Eilenktik, entwickelt hat (s. die meisten platonischen Dialoge). Anders als die Sophisten, bestand er darauf, daß die Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, in jedem einzelnen Menschen begründet liege und nicht in der Gesellschaft, ihren allgemein akzeptierten Glücks- und Wertvorstellungen.

Sokrates reizten die Begriffe, die man täglich benutzte und gedankenlos anwendete, und untersuchte er sie, weil den Menschen privat ebenso wie in ihren politischen Institutionen so viel Unheil daraus erwuchs. Sokrates wollte ergründen, was hinter den Worten steckte, und wie sie inhaltlich mit etwas Fundiertem, Echtem zu füllen wären. Um sich hierüber Klarheit zu verschaffen, bediente er sich einer besonderen Methode, die das dialektische Verfahren der Eilenktik mit einbegreift: Durch sorgfältig überlegte Fragen und Antworten im Wechselgespräch, und nicht durch Belehren des einen Gesprächsteilnehmers durch den anderen – wie es die Sophisten mit ihren Schülern praktizierten -, sollte die Einsichtsfähigkeit der Dialogpartner gefördert und schließlich das Wissen um das Gute (agathón) und Edle (kalón) aus sich selbst hervor gebracht werden. 



Sokrates war einer der ersten Philosophen, die den Bereich des "Unbewussten" in der menschlichen Seele entdeckten.
Er nimmt einen im Menschen quasi unterirdisch gelegenen Bereich an, der, ohne dass es vom Ich schon gewusst würde, existentiell wichtige Informationen beherberge, etwa über den Bau der Seele und das ihrer Gesundheit dienende Verhalten.[2] Solche der Seele in ihrem Leib keimenden geistigen Geschöpfe verglich Sokrates mit einer den Menschen kaum geahnten Schwangerschaft und so entwickelte er eine besondere Technik des Stellens von Fragen, die - wie Platon darlegt - dem Antwort gebenden Ich ermögliche, seiner Seele dabei behilflich zu sein, sich jene in ihrem Inneren gewachsenen Einsichten ans Licht der Welt zu gebären.[3]
 

Die meisten seiner Zeitgenossen erwiesen sich als dafür unfähig. Selbst die wenigen, die sich beim Gebären helfen ließen, hatten mit schweren und schwersten Widerständen zu kämpfen. Teils begannen sie sich gegen Sokrates (die Hebamme) zu wenden (exemplarisch  Alkibiades/ Dialog Symposion)...

Sokrates versuchte, die schmerzliche Erfahrung dieser so gut wie ausnahmslos alle heutigen Menschen anbetreffenden Problematik (- von Freud als "neurotischer Widerstand" gegen die instintiv-intuitiven Forderungen des "Es" bezeichnet) durch seine Menschlichkeit zu mildern, was sich auch in seiner Ironie ausdrückt. Sie will andere nicht der Lächerlichkeit preisgeben, sondern unternimmt den Versuch, ihnen ihre Unzulänglichkeit als etwas zu erkennen geben, das und dessen Ursache erforscht werden soll, anstatt die Waffe der Rhetorik zu zücken oder die Flucht aus dem Gespräch zu ergreifen. Wie schwer, ja oft unmöglich es vielen seiner Gesprächspartner wurde, dies Angebot zu verstehen und anzunehmen, zeigen fast alle der platonischen Dialoge. Als wenig hilfreich empfanden die Angesprochenen im Zweifel, sich  mit Sokrates Beistand in der Öffentlichkeit auf diese Weise demontieren zu sollen

Heute bietet die psychoanalytische Traumdeutung eine Alternative...

 Das Philosophieren, das oft mitten im geschäftigen Treiben von Athens Marktplatz stattfand, versprach vielen besorgten Männern Antwort auf ihre im allgemeinen Untergangsszenario der Zeit drängende Frage, was genau erforderlich wäre, damit ihre Söhne bessere Männer als sie selber würden, damit die Polis (Athen) die “Schule von Hellas (bleibe) ... und jeder einzelne Bürger ... in vielseitiger Weise seine eigene persönliche Art entfalte” (vgl. Rede  Perikles, in: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II 41,1: .).

So kam, dass Sokrates einige Freunde und sehr viele Feinde gewann: Freunde, die seine Philosophie als Schlüssel zur eigenen und gemeinschaftlichen Weisheit ansahen, und Feinde, die diese Philosophie als Gotteslästerung und gemeinschaftsschädigend einschätzten - mit Recht, sofern eine solche Gemeinschaft eine schlechte ist, die ihren besten Mann Kraft solchen Rechts 'legal' ermordet.

Nicht nur die Zeitgenossen Sokrates' besaßen kein einheitliches Bild über ihn, auch die heutige Gesellschaft hat es nicht.





Das Daimonion
bezeichnet eine weise inner-seelische Instanz, die ein vom Ich-Bewusstseins unabhängiges Eigenleben führt. Den verschiedenen Darstellungen zufolge wacht Es über die Taten und Gedanken des Ichs in jedem Lebewesen.

Nur vereinzelt wird die Auffassung vertreten, das Daimonion könne den Menschen der eigenen Verantwortung für das Gelingen seines Lebens entheben. So kann das Daimonion (besonders nach Sokrates) zwar dutchaus als unfehlbar weise, dabei jedoch nicht allmächtig erachtet werden; Im Gegenteil soll jedes Ich bestrebt sein, die Botschaften seines Daimonions (Traum-)deutend zu enthüllen, ihren in Symbole verkleideten Sinn verstehend und verwirklichend. Diese Forderungen vertreten das Erkenne Dich selbst!, das am Eingangstor des Orakels zu Delphi stand, und das Werde, der du bist! Pindars.


Das sokratische Daimonion 

Sokrates erklärt es als eine sich 'akustisch' und sonst auch in Form von Träumen mitteilende innere Stimme göttlichen Ursprungs (Intuition). Diese innere Stimme meldete sich unaufgefordert, um ihn vor lebenssinnwidrigen Verfehlungen zu warnen; gegenüber den richtigen Entscheidungen hingegen, hüllte sie sich in Schweigen.

Sokrates verstand das Daimonion als Gegeninstanz zur menschlichen Denkungsart, die das erkennt, was dem Ich mit seiner vernunftsgemäßen Rationalität verborgen blieb. Diese Weisheit schätzte Sokrates so hoch ein - als unfehlbar -, dass er ihren Anweisungen auch gegen seine rationale Einsicht gehorchte. Er liess sich durch sie auf seine Irrtümer aufmerksam machen (Irren ist menschlich).

Nach menschlichem Ermessen wäre angeraten gewesen, auf die Überprüfung der rätselhaften Weissagung des Orakles zu Delphi: Sokrates ist der weiseste aller Hellenen, zu verzichten, dennoch ist dies Vorhaben zur Lebensaufgabe Sokrates' geworden, die ihm schließlich das Leben kostete: 

In fast allen Dialogen Platos wird geschildert, dass sie für die "Weisen", mit denen Sokrates sich der Prüfung unterzog,  peinlich ausgingen, so erwarb er sich viele Feinde, die ihn als lächerlich oder gefährlich darzustellen suchten. (Nach Platon Apol. 31 D und 41 D, Xen. Mem. I, 1, 6 warnte das Daimonion Sokrates allerdings auch, sich mit bestimmten Menschen überhaupt ins Gespräch zu setzen.)

Mit Hilfe solcher nur bedingt geeigneter und weiterer, befreundeter Dialogpartner erkannte er das Unvermögen des Ichs, Wissen nur aus sich selbst zu gewinnen: Dass das Ich nur wissen kann, dass es nichts weiß, dies ist die für die Philosophiegeschichte bedeutendste Offenbarung, die Sokrates als "Geburtshelfer von Erkenntnissen" ans Licht der Welt hob.

Nach Sokrates stammt alle echte Weisheit ausschliesslich aus dem Daimonion - das Gegenteil dessen, was die rationalistischen und empirischen Richtungen der Philosophie annehmen. Außerdem: Eine quasi zum "Ratschluss Gottes" erklärte Aussage des Delphischen Orakels anzuzweifeln - diese im damaligen Griechenland beim Volk als absolute Autorität gehuldigte Instanz (vergleichbar der späteren christlichen Kirche) - galt an sich schon als schwerer Frevel bzw. Tabubruch.

Als Begründung seiner demokratisch legal erfolgten Verurteilung zum Tode warfen ihm die Machthaber Athens vor, nicht an die Staatsgötter geglaubt zu haben. Wahr ist, dass er auf andere Weise glaubte. Für ihn waren die Ansichten des eigenen und anderer Menschen Ichs etwas, dass hinterfrag werden soll....

Gegenüber der Entscheidung, sich der Todesstrafe für diese seine Lebensaufgabe nicht durch Flucht aus dem Gefängnis zu entziehen (wie es sein Freund Kriton ihm riet), schwieg das Daimonion. Flucht hätte den Vorwurf der athenischen Machthaber bestätigt, und Sokrates wiederum würde sich vor sich selbst lächerlich gemacht haben. Außerdem wäre sie bei der Jugend als Aufforderung zum 'kopflosen' Widerstand gegen die Staatsgewalt Athens verstanden worden.

Da Sokrates wusste, wie rigoros Athen mit Aufrührern verfuhr, war seine vom Daimonion gebilligte Entscheidung, das Todesurteil zu akzeptieren, weder resignativ noch patriotisch, sondern entspricht sie der selbstlosen Einsatzbereitschaft "Liebe" im eigentlichen, sozialen Sinne des Begriffs.